Vor einigen Wochen hat mich die Schwabinger Bohème gereizt. Nun aber verstehe ich allmählich, dass es nicht nur diese lokal-spezifische »Subkultur« ist, die mich reizt, sondern gar die ganze Bohème. Ihren Ursprung hat sie wohl im Französischen und das wohl wesentlich früher, als die eigentliche Bohème datiert werden würde. So liegt ihr Anfang demnach bereits in den 1830er-Jahren und nicht erst kurz vor der Jahrhundertwende. Als Inspiration zur Erweckung der Subkultur diente wohl die Romantik.

Da mich die Bohéme reizt, wollte ich mich einmal konkreter damit auseinandersetzen, was denn ein Bohème (von außenstehenden Bohemien genannt) ist und was die Bewegung ausmacht. Dazu hat Helmut Kreuzer in seinem Werke »Die Bohème« – das ich noch zu lesen habe – eine Differenzierung der Subkultur vorgenommen. Auf diese werde ich später genauer eingehen. Es wird jedenfalls hiermit klar, dass die Bohème eine facettenreiche und nicht einfältige Bewegung gewesen sein muss. Dennoch ergaben sich für mich einige Grundcharakteristika, die ich im Folgenden vorstellen möchte. Zu finden ist ein Bohemien im Städtischen, wenngleich es ähnliche Bewegung auch auf dem Lande gab. Insbesondere findet man den Bohemien dort, wo es sich in der jeweiligen Stadt mitunter am günstigsten leben lässt. In München war das wohl auch einmal Schwabing, auch wenn man sich das heute gar nicht vorstellen kann. Er findet sich deshalb dort wieder, weil die Bewegung ihren Ursprung in schlecht bezahlten Wissenschaftlern und Künstlern, aber auch in Studierenden fand. Generell ist die Armut mit der Bohème zu verbinden. Dieses Milieu des »Elends, der Armut, des Lasters und der Verzweiflung« nennt Kreuzer in seinem vorher erwähnten Werke auch die »schwarze Bohème«. Auch Erich Mühsam spricht in seinem gleichnamigen Aufsatz vom Lumpenproletariat als Kern der Bewegung. Persönlich bin ich wohl aufgrund meiner ökonomischen Herkunft auch durchaus in der schwarzen Bohème anzusiedeln, wenigstens im deutschen Vergleich, nicht aber im Weltvergleich (das die sehr traurige und betroffen-machende Realität ist). Aus dieser Armut des Bohemiens resultiert wohl aber auch das weitere Charakteristikum der Abneigung und Ablehnung von bürgerlichen Lebensauffassungen und -formen. In dieser Abneigung sehe ich den Ursprung der weiteren Ablehnung von hierarchischen Gesellschaftsstrukturen und der damit verbundenen Tendenz zum Probieren alternativer Lebensformen, etwa kommunenartige Wohngemeinschaften. Diese alternativen Lebensformen betreffen bei der Bohème jedoch nicht ausschließlich die Wohnverhältnisse, sondern auch die Medienlandschaft, die gänzlich alternativ aufgebaut werden soll. Generell ist der Bohemien ein experimenteller Genosse, insbesondere wenn es um Literatur und Kunst geht. Selbst die Religion vernachlässigt er hinsichtlich des Experimentierens nicht. So schöpft er neue religiöse Möglichkeiten aus uralten Kulturen. Was allerdings spezifisch bei der Schwabinger Bohème auffällt, ist die kurz tretende Politik trotz aktiv antihierarchischer Positionierung. Was außerdem fasziniert ist, dass trotz der ihr zugehörigen Kommunisten und Anarchisten wie Gustav Landauer, Erich Mühsam und Ernst Toller sogar völkische Zirkel anzutreffen waren. Dort wurden Juden als Feinde, Martin Luther selbst als Jude und Germanen und Römer als rassisches Ideal dargestellt (s. »Herrn Dames Aufzeichnungen«, Franziska zu Reventlow). Dieses politische Lager der Subkultur tauft Kreuzer die »rote Bohème«, die den »Trotz und Kampf« verkörpert. Das geht wohl aber auch von rechts. Insgesamt war die Bohème aber, wie erwähnt, wohl wenig politisierend. Außerdem ist auffällig, dass die Schwabinger Bewegung ab ca. 1910 mit zunehmender Politisierung zerfiel, wenn auch Weiteres diese Entwicklung begünstigte, etwa die ökonomische Haltung. Auffällig ist allerdings, dass kurz darauf in den Jahren 1918/19 die Münchner Räterepublik im Zuge der Novemberrevolution entstand. Der der Subkultur entsprungene Erich Mühsam nahm an der Errichtung dieser Teil. Anzumerken ist allerdings, dass andere Lokalbewegungen (etwa in Berlin) wesentlich politischer gewesen sind. Die Münchner fokussierten sich hingegen eher auf die Erhaltung des Urcharakters: dem Ursprung im Fasching (mir zum Trotze, möchte ich doch als Schwabe Fasnet oder Fasnacht sagen). Darüber hinaus ist der Bohème ein Individualist, wenn das aber wohl eher auf die Ästhetik abzielt.

Nun, bin ich dann ein Bohème? Schwierig, weil der Terminus wohl aus der Zeit gefallen ist bzw. zur historischen Beschreibung dieses Phänoms der Jahrhundertwende genutzt wird. Die genannten Charakteristika kann man ja nichtsdestotrotz abarbeiten. So bin ich aus dem Städtischen und aufs Land werde ich zeit meines Lebens hoffentlich nie (langfristig) ziehen. Traurig, aber dennoch wahr ist, dass ich für deutsche Verhältnisse aktuell relativ ärmlich lebe. Da vermisse ich glatt meine Werkstudierendenanstellung, die noch bis zum Oktober galt, denn da habe ich als Software-Ingenieur durchaus überdurchschnittlich verdient – aber wegen doppelter Belastung habe ich zum Wohle meiner Gesundheit lieber gekündigt. Ja, und in Augsburg selber wohne ich nicht etwa im Spickel, dort wo die besser betuchten Mittelschichtler hausen, sondern im Wolfram-Herrenbach, einem Arbeiter und Migrantenviertel. Diese zwei stark kontrastierten Stadtbezirke (Nr. 11 und 30) bilden übrigens einen Planungsraum, nämlich den Planungsraum XI, genannt Spickel-Herrenbach. Die Namen solcher Planungsräume werden übrigens in Augsburg tendenziell als Viertelbezeichnung benutzt. Dass ich als Arbeiterkind Ungerechtigkeit gegenüber Arbeitern kenne und – anders als mein Geschwisterlein – ab dem Alter von 17 Jahren glücklicherweise sukzessiv ein Klassenbewusstsein entwickelt habe, das hat mir zur politischen Betätigung verholfen. Die schwarze und die rote Bohème sind mir folglich durchaus sympathisch. Die Bürgerlichkeit damit auch nicht, wenn ich es auch schwierig finde, deren Begriff klar zu definieren. Jedenfalls wäre es mir absolut fremd, sich abends mit einer inhaltslosen Soap im Fernsehen berieseln zu lassen oder gemütlich ein Bier in der offenen Gaststätte dahin zu schlürfen. Wegen des experimentellen Charakters eines Bohemien kann man sich auch streiten. So probiere ich mich durchaus aus, was Kunst (insb. Fotografie und Grafik) und Lyrik (siehe meinen Blog) anbelangt. Doch in der Sache selbst habe ich bislang nicht aktiv versucht, den Status quo herauszufordern. Jedenfalls noch nicht. Ja und Student bin ich dann auch noch und als solcher durchaus mehr der Wissenschaft als der Wirtschaft angetan. Probleme mit hierarchischen Strukturen habe ich auch und meine politischen Aspirationen sind im Lager der Sozialisten anzusiedeln, wenngleich ich wegen dieser Abneigung gegenüber Hierarchien auch eine dezentralere Herangehensweise (etwa durch Räte) bevorzuge. Genauer möchte ich zu meinen politischen Ansichten ein andermal äußern. Und das mit der Religion ist auch so eine schwierige Geschichte, da kann man nur froh sein, kein Faust’sches Gretchen zu kennen. Persönlich langweilt mich ein Leben, das nur von der Abdeckung materieller Bedürfnisse abhängt. Generell sind viele Menschen auf dem reinen Materialismus festgefroren und verlieren dabei jegliches Interesse an Spiritualität, geschweige den mit ihrer Religiösität. Im Jahre 2017 etwa habe ich über einige verschiedene Werke den Taoismus kennengelernt (und mich zeitgleich mit Anarchismus und Marxismus beschäftigt). Der pantheistische Charakter dieser Lebensphilosophie reizte mich damals und so auch heute noch. Wenn ich auch 2018 vom Katholizismus zum Protestantismus übergetreten bin (da meine Vorfahren zwangskonvertiert wurden und ich die evangelische Kirche als wesentlich sympathischer wahrnahm als die katholische), würde ich mich weiterhin als Pantheisten verstehen. Und bezüglich alternativer Lebensform sind wohl der jahrelange Vegetarismus (vereinzelt auch zeitweise Veganismus) und meine nun bald ein Jahr währende Low-Carb-Diät zu nennen. Da diese Lebensformen aber durchaus auch im Trend liegen, stellt sich die Zuweisung dieses Charakteristikums als schwierig heraus.

In jedem Fall spricht man wohl eher im historischen Kontext von der und dem Bohème. Lediglich in Kleidung und Dekor trifft man gelegentlich das Kürzel »Boho« als Präfix an. Das sind meist blumenartige und hell gestaltete Werke, die mich an Hippies, bzw. die »counter culture« erinnern. Die haben sich bekanntlich am Jugendstil orientiert (bspw. bei Albumcovern von Rockbands); der Kunstgattung, die zeitgleich zur Bohème als fesch galt und von künstlerischen Bohemiens geprägt wurde. Passend kann hier auch noch die dritte und letzte Art der Bohème nach Kreuzer Erwähnung finden, nämlich die der »grünen Bohème«. Diese lässt sich als »sozialer Ort des Glanzes der Jugend, Freiheit und Heiterkeit« auffassen und passt somit hervorragend zu den Künstlern der Subkultur. Durch diesen Begriff verdeutlicht sich die Parallele zur Counter Culture und auch der Bohème Ursprung, nämlich die Romantik, wird verständlicher. Abschließend möchte ich sagen, dass auch wenn das Leben oftmals wunderbar und erfüllend ist, mir die Bohème nach letzter Auffassung etwas zu positiv geraten ist. Und das sage ich, obwohl die Bewegung ausgerechnet am ehesten nach diesem Verständnis bekannt ist. Aber wir leben doch in einer Leistungsgesellschaft, ist das dann nicht wie ein Trugbild? Eine Lüge?