Die Identifikation, eine Krise
Wir befinden uns im Frühling des Jahres 2019, das Abitur steht kurz zuvor. Ein Schüler, der die Oberstufe über immer wieder seine politischen Gesinnung hinterfragt hatte – wenn trotz dessen immer wirtschaftlich links positioniert – sitzt vor den Schulbüchern. Insbesondere galt es für die kommende schriftliche Geschichtsprüfung nachzulernen, denn während der letzten vier Halbjahre wurde einiges ausgelassen oder ungenau behandelt. Eben dieses intensive Auseinandersetzen, vor allem mit der ereignisreichen und nicht ganz trivialen Geschichte des Heilig Römischen Reiches und des durch die Nationalidee aufkommenden Deutschen Reiches (später Deutschland) bewegte etwas in jenem Schüler. War er denn nun Deutsch? Und wenn ja, was bedeutet das? Ist er als Südwestdeutscher jetzt irgendwie ein Kind inmitten einer Gesellschaft, die sich als das Erbe der Germanen und eventuell gar der Römer sehen kann? Ist er als Augsburger nun ein Schwabe aufgrund des Dialekts, der Küche und weiteren Aspekten? Und wenn ja, ist er damit durch den Reichsdeputationshauptschluss und die dadurch erfolgte Mediatisierung Augsburgs an Bayern ein Opfer bayerischen „Imperialismus“?
Jener Schüler bin ich gewesen und seither Student an der Universität der bayerischen Landeshauptstadt München. Wenn auch einige dieser Fragen übertrieben und eventuell gar unwichtig erscheinen, hat die bisherige Zeit, die ich im (ober-)bayerischen Kultur- und Sprachraum verbracht habe, die Fragezeichen der eben genannten Fragen nur vergrößert, allerdings kaum welche davon beantwortet. Dass uns in Deutschland Sprache unterscheidet, ist mir jedenfalls bewusst geworden. Dazu ist nicht einmal ein durch den Farbton distinkter Dialekt von Nöten. Nein, einfache, sogenannte, Regionalikte, reichen schon aus, um eine Herkunft aus dem „Ausland“ bewusst zu machen. Andere Eigenschaften als die eben genannten sprachlichen Eigenarten, etwa die christliche Konfession (in Bayern vor allem der Protestantismus im Vergleich zum dort historisch überwiegenden Katholizismus) und die Küche scheinen allerdings primär ältere Leute (Baby-Boomer) zu interessieren oder gar zu stören. Personen späterer Generationen betrachten diese Unterschiede hingegen überwiegend individuell und weniger kollektiv. Bei der Betrachtung des Kollektivs werden Klischees für bspw. Schwaben, Sachsen oder Baier teilweise als falsch angesehen, wenn sie auch hier und da humorvoll eingesetzt werden. Es ist also nicht zwingend, den Dialekt eines Ortes sprechen zu können oder sich mit der dortigen Küche auseinanderzusetzen. Ein jeder „Deutscher “ kann einen neuen Heimatort in Deutschland suchen und wählen ohne arge Probleme zu bekommen. So scheint dem jedenfalls.
Doch diese anscheinende Offenheit ist meiner Meinung nach teilweise gespielt. Befasst man sich nämlich mit sprachlichen Räumen, so findet man schnell heraus, dass meine Heimat Augsburg gerade noch im Schwäbischen liegt. Als Kind gab es Spätzle, Mauldasch(-a), Apfelkichla und wer weiß was sonst noch zum Essen. Und obgleich ich aus dem Freistaat Bayern stamme, bin ich in München ein Schwabe und kein g’scheiter Baier und obwohl ich aus Schwaben bin, in Württemberg eher ein Bayer, aber jedenfalls kein Schwabe. Verwirrend, gell? Und wenn auch meine intensive Ahnenforschung offenbart hat, dass die Familie hauptsächlich aus Augsburg, Allgäu, Stuttgart, Ulm und Ries stammt – wenn auch etwas kurpfälzisch, nieder- und oberbairisch, als auch mittel- und oberfränkisch dabei ist – bin ich für manchen Württemberger kein Schwabe.
Guckt man jetzt aber in meine Heimat Augsburg oder zu einem Familienteil ins Ostallgäu, dann sieht man sich dort auch nur bedingt als Schwaben. Höchstens ein „Blitzschwabe“ ist man noch, aber viel mehr doch ein Augsburger oder Allgäuer. Und dass man in Ulm sehr stolz darauf ist, Ulmer zu sein, dass habe ich auch schon erfahren. Vielleicht liegt die Identifikation vielmehr in der Stadt, bzw. in dem Ort, in dem man aufwächst und weniger in einem großflächigen Gebiet – womit Demonyme wie europäisch oder deutsch, eher geopolitisch, als kulturell zu verstehen sind und man bei ihnen mit Identifikation gar nicht erst anfangen sollte.
Jedenfalls scheint der Zeitgeist der Postmodernen, in der wir uns befinden, vorzuherrschen: der Individualismus. Womöglich sollte diese selbstbestimmende Haltung dazu motivieren, sich selbst zu definieren, anstatt sich durch ein Kollektiv etwas vorschreiben zu lassen; eventuell sollte man die Fragen vom Anfang dieses Textes also fallen lassen, obwohl derer Beantwortung so verleitet und fasziniert.
Damit also zu neuen Fragen: Was macht mich aus? Wo und wie möchte ich sein? Und eine der vermutlich brennendsten Fragen auf der Ebene der persönlichen Philosophie: Wer bin ich?